Roessler 1915

Arthur Roessler: „Theater und Kunst. Kollektivausstellung Egon Schiele“, in: Arbeiter Zeitung, 14.01.1915, S. 9
In zwei Sälen und drei Kabinetten der Galerie Arnot am Kärntnerring Nr. 15 (nicht zu verwechseln mit dem seit kurzer Zeit in der Kärntnerstraße eröffneten Bildergeschäft gleichen Namens, das kaufmännisch Bilderware feilhält) sind gegenwärtig sechzehn Gemälde und etwas sechzig Zeichnungen und Aquarelle zu sehen, die Egon Schiele zum Urheber haben. Wer „Aktuelles“, die bildhafte Abspiegelung zu sehen erwartet, zu denen sich ein bildender Künstler durch die Ereignisse des Krieges bewogen fühlen mag, wird enttäuscht sein, denn nichts derartiges ist zur Schau gestellt, sondern Körperstudien, Bildnisse, Landschaften und figurale Kompositionen. Themen von ewiger Giltigkeit [!] sind behandelt: das Sterben, Mann und Weib, die Mutter, die Landschaft. Goethe hat sich den aufregenden Zeitereignissen gegenüber ähnlich verhalten; in dem 1813 überschriebenen Abschnitt seiner „Tages und Jahreshefte“ schrieb er: „Hier muß ich noch einer Eigentümlichkeit meiner Handlungsweise gedenken. Wie sich in der politischen Welt irgend ein ungeheures Bedrohliches hervortat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste. Dahin ist denn zu rechnen, daß ich, von meiner Rückkehr aus Karlsbad an, mich mit ernstlichem Studium dem chinesischen Reiche widmete und dazwischen ... den Epilog zu Essex schrieb, gerade an dem Tage der Schlacht von Leipzig.“
Was Goethe bewußt tat, tut Schiele rein triebmäßig, gleichsam aus Notwehr. Nur ist seine Welt, in die er sich mit zäher Beharrlichkeit zurückzieht, enger umgrenzt als die des großen Dichters und Weisen. Was aus ihr von ihm hervorgeholt wird, gibt daher den Menschen auch weniger; ihren Wert macht nicht das Was, sondern das Wie, nicht das Gestaltete, das oft wie das brünstig gewordene Asketentum gotischer Mönche anmutet, sondern die Gestaltung, die fast immer meisterlich ist, wenigstens im Hinblick auf die Zeichnung, die Form. Gegenwärtig gibt es in Wien kaum einen Künstler, der besser zu zeichnen vermöchte, als Schiele. Wie ihm die Linie fließt, das zu sehen ist ein Genuß von Stärke und Seltenheit. Als Kolorist bewährt Schiele einen überaus verfeinerten, eigenartigen Geschmack, dessen Reiz bestrickend wirkt und das mitunter gegenständlich Peinliche der Darstellung ganz vergessen macht; aber nur da, wo er unabsichtlich schuf, wo er, hingegeben an eine starken Natureindruck, diesen sozusagen elementar als fertiges Kunstgebilde aus sich herausstößt, ist ihm, das Erleben der Farbe zum Ereignis geworden, das auch den Beschauer beglückend ergreift. Landschaften wie die „Versinkende Sonne“ betitelte und einzelne seiner Bilder „alter Städte“ sind so keusch und innig empfunden, wirken so melodisch, daß man ihnen im allgemeinen gern den Vorzug vor den ekstatischen Figurenbildern geben wird, die aus quälenden Schauern einer leidenden Seele in wütenden Krämpfen geboren zu sein scheinen. Unterbundene oder ausgeartete Geschlechtlichkeit, ein Zustand, der überwunden werden muß, stellt den Urgrund dar, aus dem Schiele die meisten seiner Arbeiten erwachsen. Er wird älter werden und damit reifer und dann schlackenlose Gebilde hoher Kunst hervorbringen. Das darf man zuversichtlich erwarten, zumal da ihm bereits einzelnes gelang, was hoher Wertung würdig ist. Unter den jungen Wiener Künstlern ist Schiele zweifellos der an eingeborner Begabung zum Kunstschaffen weitaus reichste. Seinen Reichtum zur Stärke bewußt zu wandeln ist seine nächste Aufgabe.
A. R-r.

Ausstellungen

(+-)
  • Kollektiv-Ausstellung Egon Schiele
    Galerie Arnot, Wien, 31.12.1914–31.01.1915