Schiele 1914b

Egon Schiele: „Die Kunst – der Neukünstler“, in: Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst, Jg. 4, Nr. 20, 16.05.1914, Sp. 428
DIE KUNST – DER NEUKÜNSTLER
Es gibt keine „moderne“ Kunst. Es gibt nur eine Kunst; die ist immerwährend. Kunst bleibt immer gleich dasselbe: Kunst. Deshalb gibt es keine „Neukunst“. Aber – es gibt Neukünstler. Schon die Studie eines Neukünstlers allein ist immer ein Kunstwerk; denn sie ist ein Stück von ihm selbst, das lebt. Es gibt nur wenig, ganz wenig Neukünstler. Erkorene. Der Neukünstler muß unbedingt er selbst sein; er muß Schöpfer sein; er muß unvermittelt, ohne all das Vergangene und Hergebrachte zu benützen, ganz allein den Grund in sich haben, auf dem er baut. Nur dann ist er Neukünstler.
Es sei jeder einzelne von uns er selbst, ein Selbst. Wer in Betracht kommen will, muß das Bewußtsein haben, allein, für sich selbst existieren zu können. Und er muß seiner Zukunft wenigstens im Geiste vertrauen können.
Alle echten Neukünstler schaffen eigentlich nur allein für sich. Sie bilden, was sie wollen. Sie bilden, sie porträtieren alles. Die Mitmenschen fühlen ihre Erlebnisse nach.
Des Neukünstlers Gegensatz ist das Rezept. Eine Epoche zeigt der Künstler, ein Stück seines Lebens. Und immer durch ein großes Erlebnis im Sein. Die Künstlerindividualität beginnt eine neue Epoche, die kurz oder lang dauert, je nach dem zurückgebliebenen Eindruck, der mehr oder minder viel Gewicht hat, und nach dem der Künstler sein Erlebnis voll und vollkommen gebildet hat.
Der Künstler muß sein: von Vornehmsten der Vornehmste; von Rückgebern der Rückgebigste. Er muß Mensch sein, mehr als jeder andere, und er muß den Tod lieben und das Leben.
Die höchste Empfindung ist Religion und Kunst. Natur ist Zweck. Aber dort ist Gott. Und der Künstler muß ihn empfinden, stark, am stärksten.
Egon Schiele

Verknüpfte Objekte

(+-)