Neues Tagblatt 1912
N.N.: „Stuttgarter Kunstleben. Der Kunstsalon von Rud. Vollmar“, in: Neues Tagblatt und General-Anzeiger für Stuttgart und Württemberg, 17.06.1912, S. 1
Der Kunstsalon von Rud. Vollmar
hat seit jeher den „Radikalinskis“ der Malerei Unterschlupf gewährt und das ist nur zu loben. Denn man soll nichts ungesehen verwerfen. Diesmal ist ein Prachtskerl darin eingekehrt; er heißt Egon Schiele, und auf der ihm zu Ehren herausgegebenen Broschüre steht: von Paris von Gütersloh. Welch letzterer Ort übrigens nahrhaft in die Ohren klingt, denn man bekommt von dort schmackhafte Dauerwürste. Was nun Herr Egon Schiele bringt ist nicht ganz so schmackhaft und was gar den die Broschüre eröffnenden „Versuch einer Vorrede“ anbelangt, so wäre als passender Ausgabeort dafür Winnenden oder Schussenried zu nennen, auch Dalldorf und Charenton wären zu empfehlen. Im übrigen ist das, was Egon Schiele bringt, besser als die Vorrede; nur sieht das alles aus, als hätten der Wiener Klimt und der Skandinavier Munch sich zusammengetan, um der Welt einen Ableger zu hinterlassen. Schiele hat ganz sicher Talent; seine farbigen Studien, die das ganze Aussehen jener mit den Fingern bearbeiteten Kleisterpapiere tragen, zeigen Gestalten von einer geradezu grausigen Charakteristik: Kinder werden zu Galgenvögeln der Straße, verzerrte Mikrocephalen und Wasserköpfe tauchen auf, kurzum eine menschliche Gesellschaft, die bis in die letzte Faser hinein von Knochenschwund, Rhachitis, Lupus und Tuberkulose zerfressen ist. Auf den Zeichnungen sehen wir dann die perverse Eleganz der geil sich schwingenden Linien Klimts. Talent ist auch hier zu finden; man betrachte nur die Profilzeichnungen des Herrn mit dem gespannten, nervösen Ausdruck. – Einige Skizzen von Oscar Schlemmer, dessen aparte, wie durch ein Schwarzglas gesehene Malerei mich von jeher interessiert hat, bedeuten doch eigentlich nur noch kaum angefangene Untermalungen. Es ist bedauerlich, daß der junge begabte Maler sich derart gehen läßt. Recht dekorative Farben zeigen die flott behandelten Schneelandschaften von Berchtold.
hat seit jeher den „Radikalinskis“ der Malerei Unterschlupf gewährt und das ist nur zu loben. Denn man soll nichts ungesehen verwerfen. Diesmal ist ein Prachtskerl darin eingekehrt; er heißt Egon Schiele, und auf der ihm zu Ehren herausgegebenen Broschüre steht: von Paris von Gütersloh. Welch letzterer Ort übrigens nahrhaft in die Ohren klingt, denn man bekommt von dort schmackhafte Dauerwürste. Was nun Herr Egon Schiele bringt ist nicht ganz so schmackhaft und was gar den die Broschüre eröffnenden „Versuch einer Vorrede“ anbelangt, so wäre als passender Ausgabeort dafür Winnenden oder Schussenried zu nennen, auch Dalldorf und Charenton wären zu empfehlen. Im übrigen ist das, was Egon Schiele bringt, besser als die Vorrede; nur sieht das alles aus, als hätten der Wiener Klimt und der Skandinavier Munch sich zusammengetan, um der Welt einen Ableger zu hinterlassen. Schiele hat ganz sicher Talent; seine farbigen Studien, die das ganze Aussehen jener mit den Fingern bearbeiteten Kleisterpapiere tragen, zeigen Gestalten von einer geradezu grausigen Charakteristik: Kinder werden zu Galgenvögeln der Straße, verzerrte Mikrocephalen und Wasserköpfe tauchen auf, kurzum eine menschliche Gesellschaft, die bis in die letzte Faser hinein von Knochenschwund, Rhachitis, Lupus und Tuberkulose zerfressen ist. Auf den Zeichnungen sehen wir dann die perverse Eleganz der geil sich schwingenden Linien Klimts. Talent ist auch hier zu finden; man betrachte nur die Profilzeichnungen des Herrn mit dem gespannten, nervösen Ausdruck. – Einige Skizzen von Oscar Schlemmer, dessen aparte, wie durch ein Schwarzglas gesehene Malerei mich von jeher interessiert hat, bedeuten doch eigentlich nur noch kaum angefangene Untermalungen. Es ist bedauerlich, daß der junge begabte Maler sich derart gehen läßt. Recht dekorative Farben zeigen die flott behandelten Schneelandschaften von Berchtold.
Ausstellungen
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Ausstellung im Kunstsalon Rudolf Vollmar [Titel unbekannt]Kunstsalon Rudolf Vollmar, Stuttgart, ca. Juni–August 1912