Unpublished manuscript by Wilhelm “Willy” Lidl: “Egon Schiele”
ESDA ID
3033
Nebehay 1979
Nicht gelistet/Not listed
Credit line
Whereabouts unknown
Date
c. 1911–1912 (inferred from content)
Transcription
Egon Schiele

„Die höchste Empfindung ist Religion und Kunst. Natur ist Zweck – aber dort ist Gott, und ich empfinde ihn stark, sehr stark, am stärksten." So schrieb der damals 19 jährige Egon Schiele.
In dem Alter, in dem andere gerade aus den wüsten Träumen der Pubertätszeit erwacht sind hat er schon die tiefsten Vorstellungen, die grausamsten Vorgänge im Werden aus seiner Künstlernatur emporgeholt. Revolutionär, nicht weil er noch jung genug ist es zu sein, sondern weil sich sein hochgespannter Organismus entladen muss und weil die glühenden Träume, die in seinen Tiefen gleich einer auf und niederwogenden, einer feuerflüssigen Masse hervorquellen. Seine nur ihm eigene Form ist nicht Originalitätssucht, sie ist vielmehr folgerichtig und notwendig, denn die Fieber und erotischen Schauer müssen sich bei ihrer Konzentrierung in Formen ballen, die wie die Seelenvorgänge gluten und betäuben.
Wenn in der Künstlerseele Visionen wie „Gottnah und Selbstseher" leuchten, muss da nicht alle hergebrachte Form zerbrechen und eine neue sich bilden?
Und es ist mir die Form dieses Künstlers ein Beweis mehr seiner Künstlerschaft, denn sie ist prägnant, zwingend und geschlossen.
Es irren die, die da sagen Egon Schiele lasse sich gehen, er sei nicht seiner Herr! Man sehe doch mit welch ungeheuren Energie dieser Künstler seine Vorstellungen in Formen zwingt.
Er ist einer der Mutigsten und Grausamsten gegen sich. Trotzdem ein Überschuss an Kraft, eine ungeheure Vitalität bei ihm schöpferisch wird, kenne ich für Egon Schiele dennoch nicht die Gefahr, dass er sich verliert, sondern, dass er sich erwürgt.
Schon allein daraus kann man ersehn, dass die Form dieses Künstlers kein artistisches Kunststück ist, weil man sie in seinem Entwicklungsgang als geworden verfolgen kann.
Wenn ihr schon dem Künstler nicht nahe kommt, so ehrt doch diesen in seinem eigenen Fleische wütenden, diesen Asketen.
– – – Ja noch die einzige Möglichkeit Egon Schiele als einen nicht gläubigen, aber durch Qual und Askese sich selbst betäubenden Mönch zu sehn. So zeigt er sich uns auch in einem seiner Bilder. Der „Heilige" in der „Weltwehmut" ist nicht ein gläubig verzückter Heiliger, sondern der, der nicht weiß welchen Lüsten er sich hingeben soll, und so stürzt er sich denn in die sinnlich sich selbst verzehrende Lust der Askese und weil er nichts gefunden das groß und hoch genug wäre um sich ihm ganz hinzugeben, so zerstört er sich selbst. Dieser Künstler ist nicht einer von denen die warten müssen bis ihnen die Dinge nahn [nahen] und ihren ganzen Organismus durchsetzen. Als reißt er an sich, hält ihn sich bis es von ihm ganz durchdrungen ist und bannt es dann in Formen. So nennt er eine Stadt die „tote" weil sie ihm zur toten wurde, so schafft er Süchtige wo wir blühendes Leben sehen.

Warum wendet man sich denn von Egon Schiele, der nur im Werden leidende Gestalten bildet, ab?
Wäret ihr nur nicht so engbrüstig und schmalköpfig, ihr könntet hier eine Wahrheit, die ihr schon lange aus euren Büchern wisst, nicht nur lernen, sondern was viel mehr ist, ihr könntet sie auch ins Blut sickern lassen und von ihr ganz durchdrungen werden: „DASS ALLES WERDEN LEIDEN IST" Diese Wahrheit rückt Egon Schiele hinein ins Trance der Kunst, mit trotzigem Ernst und unerbitterlicher Wahrheit. Unerhört der Mut dieses Künstlers das Werden vor uns aufzurollen. Schaut nur, wie viele es konnten und wie viele es dann noch wagten, aber die den Mut dazu hatten nennen wir unter den Größten.
Es sind daher Egon Schieles Gestalten nicht, wie es denen, die ihm schnell fertig werden wollen, zu erklären beliebt „zerschundene und zermarterte" Gestalten, sondern Menschheitstypen, die alle Leiden, bedingt durch ihre Größe, an sich erfahren.
So ist der Lyriker der Typus des Dichters, desjenigen Menschen, der alle seine Leiden still erträgt, weil sie durch seine Schöpfungen wieder aufgehoben werden. Ganz anders die „Selbstseher".
Hier hat der Künstler den Typus der Menschen geschaffen, die sich selbst bis auf den Grund sehn, ohne das Talent und die tatwerdende Kraft zu haben, diese wüsten Bilder durch deren künstlerische Gestaltung zu verwischen. Es zeugt von dem hohen künstlerischen Formgefühl dieses Künstlers, dass er auf alle Ausdrucksmittel, die ihm nicht die Figur selbst bietet, verzichtet. Er rückt daher seine Gestalten aus einem tiefen Dunkel heraus, aber beleuchtet sie nicht, sondern lässt sie „SELBST" leuchten.
In den Delierien [Delirien] verbreitet die umsichgreifende Verwesung ein fahlgelbes Licht und im „Prophet" setzen sich die zehrenden Kräfte gleichsam in Licht und Wärme um. Egon Schiele will uns nicht das Bild einer Vision, wie sie in der mächtigen Künstlerseele aufleuchtet, geben, sondern die Vision selbst Form und Farbe werden lassen.
Unter die wenigen, die auf dem Weg von „innen nach außen" nicht eine Nacht des Vergessens zu durchlaufen hatten, zählt auch Egon Schiele.

Egon Schiele ist, wie er selbst von sich sagt „KEIN MODERNER KÜNSTLER"! Denn er wächst über eine rein zeitliche Bedeutsamkeit hinaus und weist mit einer Hand weit zurück in die Vergangenheit, mit der anderen in die noch kaum dämmernde Zukunft. Derselbe Künstler der neue Möglichkeiten für die bildende Kunst findet, trägt auch den Geist früherer Zeitläufte in sich.
So wirkt er durch die „Weltwehmut" religiös und speziell christlich-gotisch, dass dieses Bild am besten in einer frühgotischen Kirche als Altarbild hängen würde.

Egon Schiele ist auch als Bildnismaler ein bis zu den Wurzeln des Lebens nachspürender Künstler, denn er bleibt nicht an der Oberfläche hängen, jede Vieber [!] jeden Herzschlag erfühlt er. Im Grunde genommen sind alle seine Bilder „Selbstporträts" und weil dieser Künstler alle seine Visionen nicht einen erdichteten Menschen, sondern sich selbst erleben lässt, kann man ihn auch Lyriker nennen.
Sonst sind dieses Künstlers Porträts nicht naturgetreue wiedergaben [!] von Personen. Wozu auch? Er ist nicht der Maler dessen Bildnisse schöner Prinzessinnen, berühmter Staatsmänner für Archive und Ahnengalerien bestimmt sind. Ein Porträt dieses Künstlers hat für die von ihm gemalte Persönlichkeit nur insofern persönlichen Wert, als es für sie das Dokument ist „dass sie von einem Künstler so gesehen wurde". Für uns sind es dekorative Porträts, Bildnisse nur, weil wir vielleicht auf dem Katalog lesen „Bildnis des Herrn ‚N‘". Denn der Künstler malt nie ein Porträt um uns zu zeigen, wie dieser oder jener Mensch unter uns lebt, sondern gleich erkennt er die für die Person charakteristische Erregung und in der dadurch ausgelösten Gebärde malt er sie. So ist der Herr R. der „erhabene Zurückweisende", der Herr K. der „empörte Zuschauer". Man soll mit dem Künstler nicht rechten, dass ihm auch ein Porträt zum figuralen Problem wird, denn wir suchen ja im Porträt nicht die Person, die den Künstler bei einer Objektivation seines künstlerischen Wesens als Vorwurf diente sondern NUR den Künstler.

Der werdende Künstler, sein unglaublich reicher Formenschatz, sein hohes künstlerisches Wesen, das alles und mag es uns als das Scheußlichste gelten, organisch sieht, eröffnet sich uns in seinen Zeichnungen. Die wüsteste Sinnlichkeit, die konvulivischen Bewegungen des sich hingebenden Weibes, aber auch unberührte keusche Mädchenleiber. Erotik von den leisesten Regungen bis zu den plötzlichsten Ausbrüchen, studierte dieser Künstler. Egon Schieles starke Erotik ist in seiner Wesenheit begründet, denn gerade für ihn, der das „Werden, den Fluss im Sein" in künstlerische Formen zwingt, ist sie von höchster Bedeutung.
Aber die denen Egon Schieles Zeichnungen nur Zoten und ordinäre Bilderbögen sind, sollen wissen, dass auch die stärkste Erotik eines Menschen, der wie dieser Künstler den Instinkt hat, das Werk zu erfühlen „GESUND UND NATÜRLICH" und erst denen zum Laster wird, die bei der Erotik stehen bleiben und zu unintelligent sind, dem Künstler tiefer zu folgen.
Nicht auszudenken aber ist, wohin Egon Schieles Kunst, der Künstler ist erst 21 Jahre alt, noch führen wird. Und wenn er wirklich soweit käme, dass durch ein vollkommenes Verschmelzen seiner Künstlernatur mit dem „‚SEIN’ DER STROM DER DINGE AUS DEM SELBSTTRITT?"

Willi Lidl
Recorded in
Anton Peschka Jun.: Die Wahrheit über Egon Schiele (nicht publiziertes Typoskript), ca. 1985, Verbleib des Originals unbekannt, S. 122-124.
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